art-imaginär 09: Eröffnungsrede von Clemens Jöckle

Rede zur Eröffnung der Ausstellung „art-imaginär“ im Herrenhof Neustadt a. d. W. – Mußbach am 27. September 2009, 11 Uhr

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

der bis vor Kurzem an der Pädagogischen Hochschule in Hitzkirch/ Kanton Luzern lehrende Philosoph Lothar Emmanuel Kaiser erläuterte in einer seiner mit zahlreichen Bonmots angereicherten Vorlesungen, in diesem Fall zum Thema „Die Erweckung der Phantasie“: „Wenn man Phantasie verschütten will, explodiert sie“. Dieses Bonmot ist so doppeldeutig, wie die Wortwahl. Meint Kaiser „zuschütten”, dann bricht machtvoll das alle Grenzen sprengende Eruptive aus tiefsten Schichten des Unterbewusstseins, aus dem Bewusstsein, aus der aus Traum und Realität bestehenden Mischung hellwacher oder somnambuler Halluziniertheit hervor und zeitigt beispielsweise jenseits aller beschreibbaren Wortmächtigkeit Visionen, die nicht nur Zusammenhänge sprengen, sondern die Bereiche des Inneren nach Außen stülpen. Goethe muss da in den Sinn kommen:  

„Müsset im Naturbetrachten Immer eins wie alles achten;

Nichts ist drinnen, nichts ist draußen:

Denn was innen, das ist außen.

So ergreifet ohne Säumnis,

Heilig öffentlich Geheimnis“ (Epirrhema von 1827).

Meint Kaiser „ausschütten” im Sinne von ungeregeltem Verbreiten, als Freigebigkeit der Gedanken, dann wird das Nachdenken bei diesen Künstlern zum Sprengstoff und ihr Vordenken ist die Zündschnur, deren sich entzündender Funke allein schon vielfältige Irritationen bis hin zu wahren Weltenbränden auszulösen vermag.

Die Künstler mit ihrer faustischen Neugier im Labyrinth der Widersprüchlichkeiten blicken dabei meist nach innen, dringen in Bereiche vor, wohin ihnen primär auf dem Wege ihrer tausendfältigen Sensationen niemand zu folgen vermag. Der Widerstand, das Aufbegehren, das Provozieren mit ihrer Bilderwelt gehört genauso zur phantastischen Kunst wie das Überwältigtwerden, das Getriebensein von einer Idee und das „In Bann geschlagen sein“ von der gleichen auf den Künstler und auch den Betrachter niederstürzenden Bildwelt. Phantastische Kunst ist kein Zeitstil – die Zeit ist in dieser Ausstellung ausgeblendet worden, sondern eine Erscheinungsform unserer neuzeitlichen Kultur: in früheren Generationen als Manierismus abgetan, derzeit aktuell, weil Künstler die Kunstgeschichte als Steinbruch entdeckt haben, besonders die Heidelberger Phantasten um Joachim Geißler-Kasmekat und Joe Hackbarth oder die Zimmermann-Schüler wie Otfried H. Culmann sind hier zu erwähnen, und auf viele Traditionen der Kunstgeschichte zurückgegriffen haben, ob nun die Niederlande mit ihren schwerfarbigen Stilleben oder die azurbewegte auch die Pfalz überziehende fantasia romana. Die Künstler demaskieren Wesen und Dinge der sichtbaren Welt, machen sie manchmal, wie Utz Arnoldi, in ihrer sachlichen Erscheinung noch kälter, als ob sie der Oberfläche jeweils die Haut abgezogen hätten oder sind Anwälte der Sachen, die sie dem Prozess des Vergehens und des Verrottens durch ihre Malerei entziehen, und in den spannungsvollen Zustand einer zeitlosen Dauerhaftigkeit versetzt haben, wie etwa Nicolaus zu Bentheim. Andere Dinge erhalten subjektive Deutungen und Bedeutungen durch den Künstler selbst. Sie verkörpern nicht mehr das, was ihnen deiktisch, also auf Beispiele gegründet, als Definition zugewiesen ist, sondern werden zu Trägern höchst privater Assoziationen. Dies können wir bei Claus D. Hentschel beobachten. Menschliche Spuren bleiben am Gegenstand haften, manchmal erscheint es so, als ob der Mensch gerade die Szene verlassen hätte. Andere zitieren die Mythen ihrer Zeit – oft sind dies erschreckende Bilder mit apokalyptischer, endzeitlicher Stimmung. Sie ermöglichen Einblicke in den Makrokosmos oder den Mikrokosmos, in rätselhafte Weltengebäude mit Metamorphosen aus dem Vegetativen bis hin zum Leibseelischen, oder in Prozesse, die in ihrer sprichwörtlichen Quintessenz der Alchemie verwandt sind und Verfahren des Kondensierens, Härtens, Koagulierens zitieren. Es wird überlegt, was wohl die Welt im Innersten zusammenhält. Siegfried Zademack beantwortet die Frage mit der Darstellung von Kräften der Gravitation. Dazu stellt er einen altmeisterlich gemalten „Heiligenbildkosmos“ in der Art spätgotischer Tafelmalerei eines Cranach im zeigerlosen Zifferblatt einer Uhr mit höchst aktuellen Gestalten von Einstein bis Donald Duck dar und setzt entsprechende Bildmetaphern ein. Gewagteste Architekturphantasien, wie man sie in ihrer spektakulären Erscheinung seit Piranesi oder in ihrer überhöhten Perspektive und typologischen Vereinfachung auch seit Pietro Lorenzetti nicht mehr kannte, stehen neben eher stillen Landschaften, deren eingeschriebene Visionen dem Geist von Sebastian Brandts Narrenschiff und den Bildmetaphern des Surrealismus allgemein, etwa dem Ei, entsprungen sind. Eine Logik in Komposition oder Bildinhalt lässt sich dabei nicht erschließen. Auch das Menschenbild zeigt sich prälogisch und damit archaisch, wenn beispielsweise in der Reihung menschlicher Gestalten erst die erschreckende Konsequenz sich zeigt, die oft im Bildtitel suggeriert wird, so bei Edgar Ende. Großes Welttheater in der Installation von Dieter Peukert, das als kinetisches Projektionsobjekt dem Papier transluzides Gewicht verleiht und in sanfter Zumutung von allem handelt, was der Mensch denken kann, vom jahreszeitlichen Kreisen über den aktuellen Tanz des Kapitals mit seinen zur Realität gewordenen Schreckensszenarien.

Doch diese Ausstellung bewirkt mehr. Die Generationenfolge spielt nur mehr als Chronologie eine Rolle, der ungebändigte Geist schafft sich über die Generationen hinweg freie Bahn. So entsteht bei den dem labyrinthischen Kreisen in ihren Assoziationsketten verhafteten Künstlern das, was im Mittelalter noch als jenseitige Sehnsucht, als unerreichbare Vorstellung zu gelten hat, die von Nicolaus von Kues „Coincidentia oppositorum” genannte Vereinigung des Gegensätzlichen in der Erkenntnis, dass alle Phänomene des Sichtbaren Facetten einer viel umgreifender als bisher vorgestellten zu denkenden Wirklichkeit sind.

Ein bei Künstlern mögliches Resultat dieser Aufarbeitung der Wirklichkeit ist dann eine Ausstellung wie diese im Herrenhof. Lothar Emmanuel Kaiser, LEK, wie ihn seine Studenten nennen, hat mir gestern Abend noch geschrieben: „Du hast große Mühe mit deiner Gruppenausstellung, denn bei Phantasten fehlt immer die Gruppeneinstellung.“ Er meinte damit, dass diese Ausstellung in ihrer Vielfältigkeit und ihrer auch begrifflichen Differenziertheit zwischen Phantastischer Kunst, imaginärer Malerei, Surrealismus und subjektiven Mythen sich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen lässt. Aber er meinte auch, dass die Zeitlosigkeit, in die die Ausstellung getaucht ist, die Gefahr bannt, dass anstelle von Zeit bloßer Zeitgeist tritt. „Denn nur wer mit der Zeit geht, kommt nie zu spät für die neuesten Dummheiten.“

Zwei Sonderbereiche sind zusätzlich in die Ausstellung integriert. Ein Überblick über das Schaffen Woldemar Winklers, der als Methusalem der Bildenden Künstler 102 Jahre alt wurde und 2004 verstorben ist und Werke aus der Sammlung Westermann. Woldemar Winklers in Dresden (bis 1945) und Gütersloh entstandenes Werk umgreift mehr als die ars fantastica. Er war dem Surrealismus aufgeschlossen, aber hat sich nicht André Breton und seinem Manifest verschrieben. Ihn lenkte die Neugier auf das Unbekannte, das Neue, auch das Spiel um die Kunst, dessen absichtsfreier Umgang wie viele Phantasten die reale Darstellung und die real empfundenen Träume des Unbewussten einbezogen. Das Material wird zum Spielfeld der Gedanken, das objet trouvée, das ja auch in vielen Bildern der Phantasten auftaucht, unterzieht er einer bedeutungsschwangeren Metamorphose Zufall und künstlerische Komposition Formen seine Arbeiten. Auch die Zeitkritik ist pointiert scharf und durchdringt sich mit einem Realismus, den man mit Gustav Hartlaubs Definitionen der realistischen Malerei als magisch bezeichnen muss. Wenn gesellschaftliche Relevanz und das „Sich Fallen lassen” in das Unbewusste zu einer nicht definierbaren und beschreibbaren Bildwelt komprimiert werden, gibt es in ihrer irrationalen Erscheinung eine ins Absurde führende Wandlung.

Nach 1945, dem Verlust des Ateliers in Dresden durch die Bombardierung der Stadt wagt Winkler einen Neuanfang in Gütersloh. In den fünfziger Jahren entstehen die ersten Plastiken, meist Fundstücke aus Holz, die durch die Bemalung in eine figurative Darstellung verwandelt werden. Ebenfall setzt Winkle die Collagetechnik fort, indem er seinen Bildern andere Malereien einfügt. Großzügige abstrakte Formen beherrschen seine Gemälde, ein Phänomen des Zeitgeistes, der zum Informell drängt. Eigenständig bleibt die Einfügung ostasiatischer Schriftzeichen als kalligraphisches Element. Ferner ergänzt er diese abstrakten Grundformen durch märchenhafte, aus der Phantasie geborene Formen, die eine art imaginär erzeugten und damit in das Programm der Ausstellung sich einfügen. Seine phantastischen Zeichnungen erfahren einen ironischen Aspekt, er greift auch Hans Sedlmaier und dessen programmatisches gegen die zeitgenössische Kunst gerichtetes Buch „Verlust der Mitte“ an.

In den 60er Jahren wird Winklers Kunst von unbewussten Inspirationen und Assoziationen geleitet, vor allem aber trägt die Auseinandersetzung mit der Philosophie Johan Huizingas „Homo ludens“ und führt zu Winklers Diktum, dass jeder Mensch Automatismen und kreativen Spieltrieb in sich trage. Die Bildnerei der Geisteskranken als schöpferisches Potential beschäftigt ihn ebenso wie die Kunst der Primitiven, deren Bereitschaft, symbolmäßiges Denken über alle logische Erkenntnis hinaus zu verbreiten, ihm den Zugang zu dieser Bildsprache eröffnet. Hinzu tritt die Bildwelt der Kinderzeichnung als Anreger. Symbolische Bedeutung führt bei dem Werk zum Selbstzweck Immer aber ist zu dieser Zeit die Bindung an Traumwelten und an das Symbolhafte im Werk spürbar geblieben.

Winklers Werke der 70er Jahre wird von der Nähe zur surerealen und imaginativen künstlerischen Bestrebung beherrscht, dazu tritt das Programm der Gruppe „Cobra: „Uns geht es vor allem um das Gehen und nicht darum, den Weg vorzuzeichnen, zu wählen und darüber zu reden. Das Spätwerk entfaltete sich hauptsächlich in der Ausstellung als große Synthese der vorherigen Entwicklungen. Es erscheint als Reifeprozess. Die in Florenz 1982 entstandene Bildreihe greift auch neue Anregungen der Zeitgenossen auf, wie Tachismus und Pop-Art. Traum und Einfall werden nun begriffen als Bild von den Gründen und Abgründen des Lebens. Er verbindet die Aussage mit konstruktiven Elementen, dem Quadrat, dem Rechteck und dem Kreis. Zunehmend erhalten die Bilder Ereignis- und Erlebnischarakter. Zeitungskollagen, Bilder aus Papiercollagen und Kaffeefiltern werden ergänzt von einem altersmanifest, dem dreiteiligen Gemälde Schach dem Weltbild, wo sich der Künstler zur revolutionären Rolle der Emotionalität bekennt und damit die Realität der eigenen Verletzungen und Verwundungen eines langen Lebens nicht nur akzeptiert, sondern als künstlerische Rolle seines kreativen Aktes begreift. Schöpferisch sein wird für ihn im Spätwerk demütig bleiben, weil schöpferische Kräfte den Menschen mit Gott und den Urkräften vereint. Darin steht Winkler übrigens auch Joseph Beuys nahe.

Woldemar Winklers Kunst ist die Entfaltung des Möglichen. Das Leben erscheint in ihr als Entwicklung und Bewegung geschildert. Zugleich ist die Kunst die Vereinigung der Lebenswelt mit der Neugier des Faktors von Unbekanntem. Diese Erfahrung hat aber für Winkler keine neue Wirklichkeit hervorgerufen, sondern altersweise eine andere Wahrnehmungsweise des Lebensprozesses. Seine Kunst wird zuletzt zum großen Gleichnis: In Furchtlosigkeit die Wandlung der Werte angehen.

Der zweite Sonderbereich, der mit einer eigenen Ausstellungskoje in diese weitgespannte Schau integriert ist, gehört der Sammlung Westermann. Der Sammler Günter Westermann begann 1975 mit einem der Konzeptkunst nahe stehenden Projekt. Er bat Künstler um eine Arbeit im Papierformat DIN A 6 zum Thema Köpfe. Meist entstanden Selbstbildnisse in der Vielfalt der Darstellungsmöglichkeiten. Seit 1980 kamen standardisierte, aus schwarz lackiertem Holz bestehende Objektkästen im Format 17 x 13 x 2,5 Zentimeter hinzu, welche die Künstler gestalten oder verändern sollten. Das grundlegende Verfahren unter einem erweiterten, auf die Komplexität der Wirklichkeit rekurrierenden Kunstbegriff ersetzt das ausgeführte Werk durch die Skizze, den Entwurfskommentar oder Entwurf. Der Betrachter wird dadurch zum Nachdenken aktiviert. Diese Erfindung von Sol Lewitt 1966 betont die Kunst-im-Kopf-Auffassung als Verschränkung einer poetischen, ästhetischen und dramatischen Phänomenologie. Die Spannung in der Präsentation solcher Konzeptkunst wird durch die Aktivierung des Rezipienten als Mitdenker beim vergleichenden Sehen evoziert. Man könnte auch unter dem Stoßseufzer „Wenn Attitüden Kunst werden“ der Vielfalt der Erscheinungen Herr werden.

Westermann selbst hat nämlich für seine Sammlung außer den vorgegebenen apriorischen Gegebenheiten keine Einschränkungen vorgenommen. Es handelt sich auch nicht um eine der ars phantastica ausschließlich zugehörende Ansammlung, die Stilrichtungen, Tendenzen und Avantgarden erscheinen vielmehr offen. Dennoch überraschen die hier ausgestellten Vertreter des phantastischen Kunst – eine Neigung zur Enzyklopädie mag durchaus erkennbar sein. Von den Ikonen des Surrealismus wie Robert E. Matta über Erik Olson von der legendären Halmstad-Gruppe oder den Vertretern des Wiener Phantastischen Realismus um Hausner oder Fuchs und den Münchenern Mac Zimmermann und seinen Schülern sind auch nur Spezialisten bekannte Namen vertreten, darunter Edgar Landherr, dessen Phantasien meist aus Filmen des französischen Cinema noir der Nachkriegszeit gespeist werden. Auch die Malerin und Objektkünstlerin Myriam Bat-Yosef aus Paris reflektiert in ihrem kulturübergreifenden Kästchen mit Yin-Yang-Engel beipielsweise einen religionsvergleichenden Ansatz.

Unter den Selbstbildnissen zählt die Katze von Leonor Fini als Selbstbildnis zu den Überraschungen. Andere Künstler sind sich treu geblieben und haben auch für das kleine Format ihre Kunststoffe gewählt, beispielsweise Ursula mit ihrem Pelz- und Federnobjekt. Traum und Wirklichkeit als spannende Auseinandersetzung begegnen sich in den ausgewählten Exponaten dieser ungewöhnlichen Sammlung, die, wie schon gesagt, ihrerseits selbst zum Kunstwerk geworden ist.

Man möchte mit dem Mephisto von Goethe aus dessen Faust Günter Westermann zurufen: „Für ein jedes solches Stück, wünscht ich jedem Sammler Glück.“

So bleibt angesichts der Vielfalt der Äußerungen die Frage, ob es nicht doch einen durch diese Bilderwelt führenden Ariadnefaden gibt, an dessen Führung der Betrachter sich im Labyrinth dieser Bildwelten und Weltbilder zurechtfinden kann. Wenn überhaupt, dann ist die alle Künstler fesselnde Ekstase, die sie antreibt, beunruhigt, fasziniert, umtreibt, kurz, die sich als das geheimnisvolle Schaffenskraft ermöglichende Elixier für Künstler, Sammler, Genießer, Anstoß nehmende erweist.

Vielleicht wie Goethe in der zweiten Strophe des Epirrhema sagt:

 „Freuet Euch des wahren Scheins,

Euch des ernsten Spieles:

Kein Lebendiges ist Eins,

Immer ist’s ein Vieles“

 

Clemens Jöckle