Was ist phantastische Kunst ?

Schon Stanislaw Lem stöhnte in seinem Buch Phantastik und Futurologie, dass „eine Definition des Phantastischen zu geben, eine der schwersten Aufgaben ist, die man sich vorstellen kann", und benötigt ebenso wie Wieland Schmied in seinem großartigen Buch 200 Jahre Phantastische Kunst zehn Seiten für den „Versuch einer Annäherung". Zu vielschichtig ist die Problematik, zu verschwommen sind die Grenzen, als dass man mit wenigen Sätzen eine eindeutige Definition bieten könnte. So gehören ein fliegendes Krokodil, Blumenblüten, die sich in Vögel verwandeln, und Häuser mit Segel und Räder, die der Wind durch die Wüste bläst, zum Bereich des Phantastischen. Und wir sehen in dem vor 40 000 Jahren geschnitzten „Löwenmenschen" aus einer Höhle der Schwäbischen Alb oder in dem bizarren asiatischen Vogelmenschen „Garuda" phantastische Wesen, weil sie aus einer uns unverständlichen, zeitlich und örtlich fernen Kultur stammen, obwohl deren Schöpfer und dessen Umkreis an die reale Existenz dieser Wesen glaubten oder glauben.

Jules Vernes utopische Bücher waren für viele Leser im vergangenen Jahrhundert phantastische Literatur, heute gehören Raketenflüge und andere damals phantastisch anmutende Erfindungen zum Alltag.
Die phantastische Kunst geht immer über die Grenze der offiziellen Realitätsvorstellung ihres Kulturkreises hinaus, stellt Gegenstände, Szenen in einen anderen ungewohnten Rahmen oder wird absonderlich, irreal, illusionär, rätselhaft, utopisch. Während der eine Künstler sich malend von seinen Alpträumen aus futuristischen Höllen befreit oder sogar Gefallen am Schrecken findet, träumt der andere vom Leben in einer anderen Welt, von einem Paradiesgarten mit vegetativen Architekturen, die er als Bild auf die Leinwand bringt oder, wie Ernst Fuchs, Bruno Weber und andere visionäre Architekten, in die Realität umsetzt.

Der traumartige Charakter der Bilder beweist, dass sie aus einer anderen Sphäre wie die der Realität kommen. Viele phantastische Künstler berichten, dass ihre Bilder oft im Zustand einer Tagträumerei entstehen. Edgar Ende zog sich oft stundenlang meditierend und auf die Bilder wartend in eine Art Dunkelkammer zurück, und Ernst Fuchs erzählt, dass er sich beim Malen meist in einer solch konzentrierten Stimmung befinde, dass es für ihn schwer sei, wieder in die so genannte Normalität zurückzufinden, und er oft Leute nicht mehr erkenne und ihn die Angst überkomme, wahnsinnig zu werden. 

Wo der Mensch in Bildern denkt, ist er dem Unbewussten näher und damit auch seinen Wünschen, seiner Sinnlichkeit und dem Lustprinzip. Wo er in Bildern denkt, befindet er sich aber auch in der Nähe der Halluzination und des Wahns und es besteht die Gefahr, dass er von den Bilder überwältigt wird und den Zugang zur Realität nicht mehr finden kann. Das Bilderverbot, das bei Moses' Zehn Geboten immer wieder errichtet wurde, ist ein Versuch, den Menschen vor seiner Verstrickung in Bilder zu schützen; zugleich wird damit aber auch seine Triebhaftigkeit unterdrückt und sein Bezug zum Unbewussten abgeblockt.
„Aber wenn man dies Verbot annahm, musste es eine tiefgreifende Wirkung ausüben", erklärte Freud: „Denn es bedeutete eine Zurücksetzung der sinnlichen Wahrnehmung gegen eine abstrakt zu nennende Vorstellung, einen Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit, streng genommen einen Triebverzicht mit seinen psychologisch notwendigen Folgen."

Mario Erdheimer und Agathe Blaser („Eine Reise in Ungewisse”, Zürich/München, 1987/89) schreiben hierzu weiter: „Die Malerei hat das Bilderverbot immer wieder überschritten und Möglichkeiten aufgezeigt, mit inneren Bildern anders als repressiv umzugehen. (..) Künstler (..) verfügen nicht nur über eine gesteigerte Sensibilität bei der Wahrnehmung von äußerer und innerer Realität. Indem sie malen und ihre Bilder öffentlich zur Diskussion stellen, sind sie auch in der Lage, aus ihren Phantasien den Weg zurück in die Realität zu finden. Dies ist laut Freud kein leichtes, denn von der intensiven Hinwendung zur Innenwelt ist es nur ein kleiner Schritt zur Neurose.(...) Ähnlich wie einst Odysseus angesichts des gefährlich verlockenden Gesangs der Sirenen sieht sich der Künstler also vor das Problem gestellt, seinen Phantasien zu lauschen, ohne sich darin zu verlieren (...). Wenn sich der Maler rückhaltlos der Betrachtung seiner inneren Bilder hingibt, droht ihm ebenfalls die Gefahr, die Heimkehr in die Realität zu versäumen. „Wohl dem, der den Faden der Ariadne hat!”

Träume haben die Menschen immer beschäftigt. Götter sprachen durch sie und heute lässt sich der Psychiater zur Deutung und Heilung vom Patienten dessen Träume erzählen. Bei der phantastischen Kunst geht es aber nicht nur um irgendein Bild, das in uns hochsteigt, sondern auch um dessen Qualität und die suggestive technische Meisterschaft der Darstellung durch den Künstler, welche durch die Kraft der Imagination den Betrachter in Bann schlägt oder wie Michel Random sagt: „..dass die Kunst in ihrer höchsten Ausdrucksform von unserer Vorstellungsgabe, aber auch von unserem innersten Wesen Besitz ergreift; ich meine das in dem Sinn, dass wir nicht einfach vor einem Phantastischen Bild stehen, sondern dass wir vom Bild visioniert werden, als wären wir plötzlich aus unserer Lethargie herausgerissen worden, um dem Auftauchen einer neuen Welt in uns beizuwohnen."
Um wieder auf die Frage „Was ist phantastische Kunst" zurückzukommen, so bleibt uns, um eine annähernd gerechte Beurteilung zu erlangen, oft nur die Prüfung des Werkes, um zu sehen, inwieweit es sich von der Realität entfernt, in wie weit es Elemente hat, damit es zum Bereich der phantastischen Kunst gerechnet werden kann.

Otfried H. Culmann