Was ist manieristische, phantastische, visionäre und surrealistische Kunst ?

Die Schwierigkeit, die beim Eingrenzen des Begriffs des „Phantastischen" entsteht, gibt es auch bei der manieristischen, visionären und surrealistischen Kunst, die in einem Werk durchaus zusammen treffen können, aber bei jedem Künstler eine andere Gewichtung erhalten.

DIE MANIERISTISCHE KUNST
Die manieristische Kunst kann man als übersteigerte Ausdrucksform der Realität eine „subjektive Stilisierung” nennen. Der Künstler nimmt zum Beispiel gegebene Formen oder Figuren und treibt durch Verschiebungen, Verzerrungen und Umstellungen auf seinem Bild ein wunderliches und außergewöhnliches Spiel, das uns zum Staunen veranlasst. Die Kombination der Bildmittel kann einen solchen Kulminationspunkt erreichen, dass das Bild ins Phantastische hinübergleitet. Die äußere Welt wird durch das Auge des Manieristen in einer außergewöhnlichen Darstellungsweise auf die Leinwand gebracht. Man kann fast sagen, je extremer der Manierist wird, um so phantastischer wird er.
Die Ursache einer solchen Ver- und Entfremdung sehen Gustav René Hocke und der Kunsttheoretiker und Mediziner Dr. R.P Hartmann u.a. in einer psychodynamischen Kompensation, das heißt mit einfachen Worten ausgedrückt, je mehr der Künstler durch seine Umwelt unter psychischen Druck gerät, umso mehr verändert sich seine Psyche. Er sieht die Welt durch eine andere Optik! Deshalb gehen die beiden Kunsttheoretiker davon aus, dass der Manierismus nicht auf die Zeit zwischen 1520 und 1620 begrenzt werden kann, sondern eine Konstante der Kulturgeschichte und eine Ausdrucksgebärde der Krise darstellt.

DIE PHANTASTISCHE KUNST
Das Bild des Phantasten kommt aus der Imagination. Er erfindet, konstruiert und malt seine subjektiven Weltsicht nach seiner inneren Vorstellung, als poetische Utopie, als Möglichkeit. Er setzt Gegenstände bewusst in einer bestimmten, außergewöhnlichen Konstellation zusammen. Er erträumt und denkt sich neue Mythen aus. Während der Begriff „phantasievoll" als eine gesteigerte Vitalität im Rahmen der Realität anzusehen ist, muss die Phantastische Kunst, um phantastisch zu werden, die Realität in einem bestimmten, extremen Maß durchbrechen.
Das Phantastische wird in dem Augenblick kritisch, wenn es durch eine extreme Repression den Bezug zur Realität verliert und in einem Prozess des Narzissmus auch die äußere Welt subjektiv uminterpretiert wird. Bei einem Phantasten und Manieristen kann das ein höchst intellektuelles Spiel sein, bei dem vom Wahn Befallenen ist es bitterer Ernst. Dalí hatte aus der Beschäftigung mit der Psychoanalyse für sich eine paranoisch-kritische Methode gefunden, d.h. die ganze Welt erfuhr durch ihn eine bewusste Uminterpretation und Umformung und sein Leben wurde ein phantastisch-manieristisches Spiel.

DIE VISIONÄRE KUNST
Das Visionäre kommt von einer ganz anderen Ebene. Es kommt als Intuition, als Eingebung. Der Visionär erspielt, konstruiert und imaginiert sein Bild nicht, sondern er sieht es plötzlich oder bei der Meditation in sich. Michael Ende erzählte, dass sein Vater die Bilder, die nach stundenlanger Zurückgezogenheit in einer dunklen Kammer in ihm auftauchten, lediglich notiert hat, ohne sie selbst zu interpretieren: „Worum es ihm immer zu tun war, das war das Geheimnis. Ein Schlüsselwort im Übrigen (...) Er meinte vielmehr das Mythische, das Metaphysische, das aus einem anderen Grund nicht zu verstehen ist, weil es geheimnisvoll ist und bleibt. Weil es, wie er sagt, vor dem Gedanken kommt. Es ist ursprünglicher als jeder Gedanke."

DIE SURREALISTISCHE KUNST
Der Begriff des Surrealismus bedeutet „Überwirklichkeit" und stammt aus dem Untertitel eines Theaterstücks von Apollinaire. Der Begriff wurde von einer Pariser Literatengruppe, die sich um den Dichter André Breton gebildet hatte, 1922 übernommen. Dieser Gruppe schlossen sich ab 1924 immer mehr bildende Künstler an. „Surrealismus ist reiner psychischer Automatismus (...), ein Diktat des Denkens außerhalb jeder Kontrolle durch die Vernunft. Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit bestimmter Formen von Gedankenverbindungen, an die Allmacht des Traums, an das interesselose Spiel des Denkens." Man unterscheidet bei der surrealistischen Malerei zwei Richtungen: Der veristisch-phantastische Surrealismus mit traumartigen Szenen wie bei Dalí, Delvaux einerseits, und der abstrakt-imaginative Surrealismus mit organischen Formen wie zum Beispiel bei Tanguy, Matta und Miro, die nicht in die totale Abstraktion abgleiten dürfen. Auch hier taucht das Problem auf, dass sich der Sinn des Begriffs verwischt. Während manche den Begriff „Surrealismus" als historische Bewegung verstehen, benutzen andere inzwischen den Begriff als eine unpräzise Definition für die phantastische Kunst.

Otfried H. Culmann